Multirationalität beschreibt eine neue Anforderung an Unternehmen. Es beschreibt die Fähigkeit eines Unternehmens mit hoher Sensibilität Markttrends und -veränderungen zu erkennen und sich darauf auszurichten. Entscheidend ist dabei die Tatsache, dass diese Unternehmen mehrere Nationalitäten in sich kultiviert und diese parallel zueinander steuert. Dies entspricht einer hohen Kunst, die zu beherrschen eine modere, agile Managementausrichtung notwendig ist. Unternehmen, die diese Kompetenz in sich vereinigen dürften die Gewinner der Digitalisierung werden.
Eine tiefgreifende Frage sollte uns alle bewegen: warum haben Unternehmen wie Nokia, Polaroid, Kodak und einige andere nicht rechtzeitig erkannt, dass ihr Geschäftsmodell einer tödlichen Gefahr ausgesetzt ist?
Die Unternehmen waren in ihrem Markt über Jahre dominant und entwickelten in diesem sogar die bahnbrechenden Innovationen. Sie hatten damit eine reale Poleposition auch zukünftig die Rennen für sich zu entscheiden. Kodak beispielsweise, entwickelte bereits in den 1970er Jahren die Grundlagen der Digitalfotografie.
Dominante Logik als Gegensatz zur Multirationalität
In den genannten Firmen bildete sich wohl eine jeweils spezifische dominante Logik aus, welche besagte, wie das aktuelle Geschäft optimal zu betreiben ist.
Ein Beispiel: Kodak verkaufte zu Beginn der 1970er Jahre, also zu der Zeit, als parallel im Unternehmen an den Grundlagen der Digitalfotografie gearbeitet wurde, 90% aller Filme und 85% aller Kameras im nordamerikanischen Markt. Die Optimierung der Cash Cow Analogfotografie über die gesamte Wertschöpfungskette - also von der Rohstoffgewinnung bis zu Händler und Verbraucher - war die dominanten Logik, welcher weitestgehend alles im Unternehmen untergeordnet wurde. Die Dominanz dieser Logik wurde über die Zeit übermächtig, bequem, extrem renditenträchtig und folglich immer weniger hinterfragt.
Die Managementforschung spricht hier vom Fehlen einer bewussten Multirationalität, was Unternehmen überaus angreifbar macht (Kuno Schedler, Johannes Rüegg-Stürm, „Mulitrationales Management“. Paul Haupt, Bern 2013). Multirationalität fehlt, wenn über eine längere Periode das Denken in Unternehmen mit dominanter Logik zunehmend von dieser beeinflusst wird und abweichende Logiken ausgeblendet und ignoriert werden. Dies führt zunächst zu Effizienzgewinnen durch Synergie- und Skaleneffekte, einfachen und schnellen Entscheidungsprozessen und linear ableitbaren und damit einfach zu erklärenden Strategien. Auf den ersten Blick eine Vielzahl positiver Ansätze. Probleme tauchen auf, wenn sich Umfeldbedingungen, aus welchen sich die dominante Logik entwickelt hat, verändern!
Beispielsweise wenn die Digitalfotografie immer stärker an das Leistungsniveau der Analogfotografie hinreicht und diese am Ende sogar übertrifft. Also, wenn das Unerwartete, das Undenkbare passiert! Die Folgen sind meist drastisch, sogar existenzbedrohend.
Kodak musste zu Beginn des Jahres 2012 Gläubigerschutz beantragen. Vorher fiel die Aktie des ehemaligen Bluechip von beinahe 100 Dollar auf das Niveau eines Pennystocks.
Digitalisierung erfordert Multirationalität
In der Zeit fortschreitender Digitalisierung, steigt die Forderung nach einem Unternehmen mit multirationaler, anstelle von dominanter Logik, nicht nur linear, sondern sogar exponentiell an. Damit entsteht eine Komplexität in bisher nicht gekannter Größenordnung.
Heute ist es erforderlich ein Unternehmen mit mehreren und vor allem mit respektierten Rationalitäten zu gestalten. Die wesentliche Managementaufgabe ist es, ein Höchstmaß an Ambiguität nutzenbringend auszuprägen, weiterzuentwickeln und zu operationalisieren. Unterschiede, die vorher bewusst und konsequent zur Steigerung der Effizienz ignoriert wurden, müssen konsequent analysiert und beachtet und anwendungsbasiert abgeleitet werden.
Ein (einfacher) Weg mag es sein, das Unternehmen aufzuspalten. Beispiele zeigen sich im Energiesektor nach der Energiewende - dem Entfall der vorherigen Umfeldbedingungen: aus EON wurden die zwei voneinander unabhängigen Unternehmen UNIPER und EONneu.
Experten fordern zum Teil heute schon Autohersteller und -zulieferer auf, ihre Unternehmen in einen „Verbrennungs-“ und einen „Elektrifizierungsteil“ aufzuspalten (Die Welt vom 22. Juni 2017). Die dominante Logik „Verbrennungsmotor“ lässt nach Expertenansicht eine erfolgreiche alternative Logik „zum Beispiel des Elektromotors“ nicht zu. Möglicherweise ist dies eine Ursache für den Erfolg von Tesla als mittlerweile wertvollster nordamerikanischen Autobauer.
Agile Organisationsstrukturen sind die Basisbefähigung
Wenn man unter dem - vor allem - zeitlichen Druck der Ereignisse (also der sich radikal und schnell verändernden Umwelt) handeln muss, ist eine Aufspaltung vielleicht der einzig beschreitbare Weg. Allerdings wird damit nur eine weitere, eine zweite dominante Logik geschaffen. Der Umgang und das Managen von Multirationalität als grundlegende Kompetenz ist dem Unternehmen weiterhin verschlossen.
Wer Multirationalität erreichen will, muss sein Unternehmen von einer funktional geprägten Organisation hin zu einer agilen und funktional aufgelösten Organisation transformieren. Damit kann die Grundlage für Bestehen und Weiterentwicklung in der Zukunft gelegt werden. Oder anders ausgerückt: wer ein multirationales Unternehmen möchte, muss sich eingehend mit Agilität und den Transformationsprozess hierzu beschäftigen!
Norbert Neumann
Der Manager ist Autor des Buches „Le Parkour - Agilität in etablierten Unternehmen“